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Gefühle rationalisiert

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Es wird mittlerweile viel über Gefühle und Emotionen gesprochen da draußen, aber eben mehr gesprochen als gefühlt. Unsere Welt – oder die Welt, wie sie sich mir darstellt, die Welt, wie ich sie sehe – hat eine Schlagseite. Eine Schlagseite in Richtung Linkshirnigkeit und der ihr zugesprochenen Fokussierung auf Rationalität, Analytik, auf richtig und falsch.

Reden

Wir reden mehr darüber was vernünftig ist als über das, was gute Gefühle auslöst. Wenn wir ein Gefühl empfinden – gut oder nicht so gut – sind wir bestrebt es unter unsere Kontrolle zu bekommen, zu rationalisieren. Oder es zu unterdrücken. Und übersehen, dass Gefühle die mächtigste Treiber sind und zugleich die stärksten Widerstände sein können.

Vernunft?

Die Dominanz der sogenannten Vernunft oder der Logik und all dessen, was messbar und planbar ist, begann wohl im Zeitalter der ersten Industrialisierungswelle und mit dem Aufkommen der ersten Universitäten als (ge-)wichtige Institution. Aus einer „Kunde“ (Heilkunde zum Beispiel)  wurde Wissenschaft, Wissenschaft gebar Pseudo-Wissenschaft – wozu ich aus eigener Erfahrung insbesondere die Wirtschaftswissenschaft oder Betriebswirtschaft zähle.

Die Messung und Quantifizierung vieler Größen fütterte die Illusion alles erklären und planen zu können. Auch den Menschen und seine unsichtbaren Regionen. Psychologen und Analytiker definierten eine Norm (für was auch immer) und die passenden Tests, die mir zeigen, wie nah oder wie fern ich von einer Idealausprägung eines bestimmten Kriteriums bin.

Optimierung

Abweichungen oder Defizite kann ich gezielt ausgleichen – sagt der Trainer, sagt der Coach, sagt der Therapeut. Es gibt also stets jemanden, der sagt, was „gut“ ist. Was gutes Handeln ist, gutes Denken, wo meine „Fehler“ sind, und ob meine Gefühle und Gefühlsreaktionen angemessen sind. Mit angemessen dürfte wohl „sozial verträglich“ oder konform gemeint sein.

Wenn ich nun geschmeidig und mehr oder wenig reibungsfrei durchs Leben kommen will, empfiehlt sich doch ein entsprechendes Maß an Konformität. Ich will schließlich nicht anecken, oder? Ok, manchmal schon, um Dinge in Bewegung zu bringen. Insofern hat Anstößigkeit eine sehr positive Seite.

Zurück zum Thema

..bevor uns schwindelig wird. Über die Logik und die Ratio und auf Rat kluger Menschen hin weiß ich nun, wie ich in einer bestimmten Situation zu reagieren habe, so dass es zu meinem Vorteil gereiche. Ich kann abschätzen oder abmessen, durchdenken oder analysieren, welche Gefühle jetzt in genau dieser Situation genau die besten oder effizientesten sind – und wie ich diese ausdrücken kann und in welchem Ausmaß.

Das heißt doch aber: Ich nehme mich zunächst zurück (und meine Gefühle, auch wenn ich heulen oder mir der Allerwerteste vor Wut explodieren könnte), nehme – gedanklich – eine Checkliste zur Hand, koche mich runter, rationalisiere und reagiere dann vernünftig und angemessen. So ist das Leben. So kann es gehen. Und so geht es wohl vielen von uns. Manche merken was sie tun, andere nicht.

Unter der Haube

Was jedoch unter der Motorhaube passiert: Das Gefühl ist ja nicht automatisch weg, wenn ich ihm oder ihr sage: Hey, Du passt gerade nicht, zieh Dich mal zurück. Wir schieben es zur Seite, wir unterdrücken es. Das geht einige Zeit ganz gut. Bis der Druck im Kessel steigt.

Manch einer kompensiert den Druck bzw. leitet die „gespeicherte“ Energie durch fehlangepasste Verhaltensweisen auf anderes Terrain. Wenn das nicht gelingt bzw. nicht als Option erkannt wird, meldet sich der Körper – irgendwann. Das tut er übrigens auch dann, wenn sich die Energie ein Ventil in übermäßigem Sport, Konsum, Genussmittelmissbrauch, offener Aggression oder sonst wo sucht.

Innen und Aussen

Rationalisierung und Konformität helfen im Außen, schaden jedoch im Innen. Es gilt: Früher oder später kommt es raus. Eine Weisheit, die nicht nur in Krimis zitiert wird. Nur: Ich weiß zu selten genau, wo und wann und mit welcher Intensität es passiert.

Und jetzt?

Ich könnte natürlich sagen: Hey, lass es raus, lass alles raus! Im geschützten Raum ist das eine gute Idee. Da draußen (zum Beispiel im Job) wird das eher weniger begrüßt. Gelobt wird, wer seine Gefühle im Griff und seine Impulse unter Kontrolle hat. Was Kinder noch konnten und taten ziemt sich für Erwachsene nicht mehr. Außerdem kommt das Umfeld damit kaum klar. Wie auch?

Idee!

Also doch rationalisieren? Nicht unbedingt. Wenn ich den Gefühlsregler so einstelle, dass ich authentisch bin und so wirke, dann kann ich mir den Rationalisierungs-Checklisten-Filter schenken. Den kann ich mir ohnehin schenken, wenn ich mir klar darüber geworden bin, ob ich in einem Umfeld gefühlsmäßig falsch bin, weil ich mich „verstellen“ muss.

Wenn es eine dauerhafte Diskrepanz gibt, verkaufe ich irgendwie einen Teil von mir, ein Stück Seele. Zeit und Gelegenheit es zurückzuholen!

Und da ist er dann auch, der Kern des Pudels: Ich brauche Klarheit darüber, ob ich rationalisiere und dazu verwendeten Checklisten (aus welcher Bezugsgruppe und von welcher „Autorität auch immer“) übernommen habe oder, ob ich keine brauche – weil ich meine eigenen habe.

Muss ich ständig justieren und rationalisieren und quasi in einer zu großen Entfernung von mir selbst agieren suche ich mir möglichst schnell, aber mit Bedacht ein Umfeld in dem ich authentisch und mir treu sein kann.